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Emmaus Erzählung nach Lukas 24,13-34
Von Elfriede Demml, April 2023

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Ende. Ende. Ein anderes Wort fällt mir nicht ein, für den Zustand, in dem ich mich gerade befinde. Verloren hocke ich versteckt in einer Hausnische auf den Stufen des Eingangs. Ich habe die Knie ganz hochgezogen und schlinge meine Arme drumherum. Das gibt mir ein wenig Schutz. Ich schaue ins Leere. Nur durch einen Nebel nehme ich das Treiben auf der Straße in diesem Viertel von Jerusalem wahr. Menschen eilen geschäftig vorbei. Kindergeschrei, römische Soldaten hinterlassen hoch zu Ross eine Staubwolke, sodass ich husten muss. Doch nichts von all dem interessiert mich. Es zieht an mir vorbei, das Leben zieht an mir vorbei, das Leben geht weiter. Aber mein Leben ist vor drei Tagen stehen geblieben.


Knarrend öffnet sich die alte Haustür hinter mir. Doch auch das nehme ich nur von ferne wahr. Umso mehr zucke ich zusammen, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter greift und mich schüttelt. Erschrocken schaue ich nach oben. Es ist Kleopas, in dessen Augen sich dieselbe stumme Verzweiflung widerspiegelt, wie ich sie in meiner Seele fühle. "Komm, was sollen wir hier noch? Gehen wir zurück nach Hause."
Ich kann nicht denken was ich gerade will oder nicht will und so lasse ich mich einfach von ihm hochziehen auf meine Beine und trotte wie benommen neben ihm her. Eine Zeit lang gehen wir so stadtauswärts durch die Straßen von Jerusalem, ohne ein Wort zu wechseln. Wir drängen uns durch die vielen Pilger, die gerade hier sind, durch das Stadttor und schlagen den Weg Richtung Emmaus ein. Es ist der Weg zurück in unser altes Leben. Das haben wir vor drei Jahren verlassen, weil wir einer großen Hoffnung gefolgt sind. Jetzt wo wir diesen Weg einschlagen und ich die Weite der Felder ringsum sehe, kommt das erste Mal seit drei Tagen wieder ein Wort über meine Lippen: "So voller Hoffnung haben wir vor drei Jahren unser Elternhaus verlassen und jetzt ist alles zu Ende. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie wir uns so täuschen konnten." Kleopas nickt nachdenklich: "Ja, von Kindheit an hat man uns erzählt, dass Gott ein guter Gott ist, ein barmherziger, der heilt. Und durch Jesus hatte ich das Gefühl, diese barmherzige und heilende Liebe Gottes noch besser kennenzulernen. Wir haben ja gesehen wie Kranke, die jahrelang gelitten haben von einer Sekunde auf die andere völlig gesund wurden, nur weil Jesus für sie gebetet oder sie berührt hat. 'Steh auf und geh', hat er zum Lahmen gesagt und der ist einfach aufgestanden und gegangen, als wäre es das normalste der Welt. Und dann lässt Gott ihn, der selbst so viele geheilt und sogar von den Toten aufgeweckt hat, einfach sterben. Ich frage mich echt, ob die Geschichte von einem liebenden allmächtigen Gott nicht einfach nur ein nettes Kindermärchen war, damit Kinder keine Angst haben."
Es ist mir, als würde Kleopas meine Gedanken lesen können und aussprechen. Und gleichzeitig zerspringt mein Herz fast vor Schmerz bei diesen Worten. Wenn das stimmt, das alles nur Einbildung war, was soll uns dann noch Hoffnung geben? Um mich herum wird wieder alles ganz dunkel und ich stürze innerlich in ein schwarzes Loch. Wie ein großer unendlicher Abgrund fühlt es sich an...

 

"Schau mal!" Kleopas reißt mich aus meinen Gedanken und zeigt noch vor. Oh, da kommt jemand aus einem Seitenweg und stoßt zu uns dazu. Ich bin gerade nicht sonderlich interessiert an Begegnung, aber wenigstens lenkt es mich ein bisschen von meinem schwarzen Loch ab und so habe ich nichts dagegen, dass er wie selbstverständlich neben uns hergeht. Er scheint schon ein paar Fetzen von unserem Gespräch gehört zu haben und fragt ganz interessiert: "Das klingt spannend, worüber ihr da redet. Ich will nicht indiskret sein, aber wollt ihr mir erzählen, was passiert ist?" Kleopas ist wie immer schneller als ich: "Bekommst du gar nichts mit, was gerade abgeht?" Unser Begleiter zuckt mit den Schultern und schaut uns fragend an. "Was denn?" - "Das mit Jesus von Nazareth. Wir haben unsere ganze Hoffnung auf ihn gesetzt. Er hat so viel Gutes getan, es sind Wunder passiert, von denen man nicht mal träumen kann und wenn er gesprochen hat, dann spürte man, dass seine Worte direkt vom Himmel kommen. Und wir hatten gehofft, dass er der Messias ist, der Israel von der Besatzung der Römer befreien würde. Aber dazu ist es nicht gekommen. Die Hohenpriester haben ihn zum Tod verurteilen lassen und er wurde gekreuzigt." Aus Kleopas Mund sprudelt es nur so, als hätte er darauf gewartet, endlich loszuwerden, was wir erlebt haben.
Nun möchte auch ich erzählen:
"Ich bekomme die Bilder immer noch nicht aus meinem Kopf. Ich habe es nur von Ferne beobachtet, wie er gekreuzigt wurde, weil ich mich nicht mehr hin getraut habe, aber das hat mir gereicht. Ich werde es mein ganzes Leben nicht vergessen."
"Ja, genau so geht es mir auch", erzählt Kleopas, "heute ist schon der dritte Tag seitdem das passiert ist. Am Anfang war es noch so irreal, aber mit jedem Tag der vergeht, schwindet die Hoffnung, dass ich einfach aus einem schlimmen Traum aufwache."
- "Aber es ist noch was merkwürdiges passiert: heute haben uns einige Frauen aus unserer Runde in große Aufregung versetzt. Schon in aller Früh haben sie sich aufgemacht und wollten zum Grab gehen und dann haben sie tatsächlich den Leichnam nicht gefunden. Und sie haben behauptet, es seien ihnen Engel erschienen und die hätten ihnen gesagt dass er lebe." - "Ja, da hat ihnen wahrscheinlich ihre Psyche einen Streich gespielt. Sie haben ja auch wirklich viel mitgemacht in den letzten Tagen. Da kann es schon mal vorkommen, dass man irgendwelche Illusionen hat, nur um das alles halbwegs aushalten zu können." - "Wir waren natürlich schon neugierig und einige von uns gingen zum Grab und es war tatsächlich so wie die Frauen gesagt haben. Es war leer, aber von Jesus, der angeblich leben soll, weit und breit keine Spur. Wahrscheinlich wurde sein Leichnam geklaut..." - "Es ist zwar unendlich schmerzhaft, das zu sagen, aber ich glaube, wir haben uns getäuscht und unser Leben auf die falsche Karte gesetzt."

 

Unser neuer Begleiter scheint ein ganz aufmerksamer Zuhörer zu sein. Seine Augen, mit denen er uns unentwegt ansieht, während er neben uns hergeht laden so richtig ein, das ganze Herz auszuschütten.

Aber jetzt ergreift er endlich selber das Wort:
"Glaubt ihr nicht, dass da noch viel mehr dahinter steckt, als ihr jetzt sehen könnt? Ihr kennt doch die Geschichte eures Volkes und das Versprechen Gottes, dass er Pläne des Heils und nicht des Unheils hat. Die ganze Schrift ist voll mit der Erfahrung, dass Gott alles tut, um sein Volk zurückzugewinnen, auch wenn es immer wieder davon läuft. Und schaut doch auf euer eigenes Leben. Wie viel Gutes hat da Gott schon gewirkt, um euer Herz heil zu machen? Seht ihr die ganzen kleinen Liebestaten Gottes nicht? Und jetzt ist die größte Liebestat Gottes passiert. Er ist in seiner Liebe bis zum Äußersten gegangen, ist in all die Not der Welt hinabgestiegen, um sie so herauszutragen aus ihrer Not. Genau darin zeigt sich die Herrlichkeit Gottes."

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Ich weiß nicht, wer dieser Mann ist, aber ich könnte ihm noch stundenlang zuhören. Aber leider ist da schon Emmaus, unser Ziel in Sicht und er verabschiedet sich bei uns.
Kleopas scheint es ähnlich zu gehen wie mir, denn er flüstert mir zu: "Ich will nicht, dass er geht. In seiner Gegenwart bekomme ich irgendwie neue Hoffnung." Wir schauen uns an und ohne weitere Worte sind wir uns einig und laufen dem Mann doch noch mal hinterher:
"Entschuldigung, es ist ja inzwischen recht spät geworden und die Sonne geht schon bald unter, bleib doch bei uns, wir laden dich ein." Ein verschmitztes Lächeln huscht über das Gesicht unseres neuen Freundes und wir brauchen ihn gar nicht lange zu überreden. Er kommt mit in unsere einfache Hütte, die wir vor drei Jahren verlassen haben. Es scheint, als hätten wir den Ort erst gestern verlassen. Sogar der Besen steht noch in der gleichen Ecke wie immer. Unsere Verwandten scheinen noch auf dem Feld zu sein. Da bin ich ganz froh, dass wir erstmal in Ruhe allein hier ankommen können, in unserer alten Heimat. Auch in der Küche ist noch alles so wie früher und so richten wir gemeinsam ein Abendessen her. Wir machen es uns am Tisch gemütlich.

 

Unser Gast scheint sich schon richtig zu Hause zu fühlen bei uns. Ganz selbstverständlich nimmt er das Brot, das wir vorbereitet haben in seine Hände. Er wird ganz ruhig und schaut es mit dankbaren Augen an. Fast ehrfürchtig spricht er: "Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Erde Brot hervorbringen lässt..." Mir wird es ganz warm ums Herz. All die Verzweiflung der letzten Tage scheint ganz weit weg zu sein. Ich bin voll in diesem Augenblick eingetaucht. Ich spüre, es ist ein heiliger Augenblick und ich spüre mich auf geheimnisvolle Weise zu Hause angekommen. Und ich weiß, dass dieses Gefühl nicht in erster Linie von dem vertrauten Haus ausgeht, indem ich bin. Dieses Gefühl von zu Hause geht von diesem Mann aus, der da neben mir sitzt und jetzt das Brot bricht. Ein Stück gibt er Kleopas. Ein Stück reicht er mir. Dabei sieht er mir in die Augen, in denen ich fast versinke wie in einem Meer der Liebe… und da gehen mir die Augen auf. Es ist der Herr! Und in dem Moment, als ich das begreife - ist er weg. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Nur das Brot liegt noch in meinen Händen, das er mir gerade gereicht hat. Es ist wie ein Beweis: du hast dir das soeben nicht eingebildet. Und auch wenn ich ihn nicht mehr sehen kann, es ist schwer zu beschreiben, aber ich fühle: er ist da. Er hat mein Herz in diesem einen Augenblick mehr erfüllt als in den ganzen Jahren, in denen ich ihm gefolgt bin. Er ist da, auch wenn ich ihn nicht mehr sehe. Er lebt und er belebt mich ganz neu. Ich fühle mich lebendig wie noch nie. Es geht weiter! Es ist nicht vorbei!
 

Wieder ist es Kleopas, der zuerst wieder die Sprache findet: "Hat nicht unser Herz schon die ganze Zeit gebrannt und war wie neu belebt, als er auf dem ganzen Weg hierher mit uns redete? Wir müssen zurück nach Jerusalem zu den anderen. Wir müssen ihnen sagen, dass er lebt!"

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Erzählt von Elfriede Demml u.a. bei den Exerzitien im Alltag am 11. April 2023 in Graz-Don Bosco und beim Frauenfrühstück am 21. April 2023 in Graz-Christkönig.

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