Andere Perspektive

Heilige Messe. Zwei Bankreihen vor mir sitzen eine Frau und ein Mann. Auf der anderen Seite des Mittelgangs sitzt ein körperbehinderter Mann. Schon als er mit seinem Stock hereingekommen ist, hatte ich Angst, er würde fallen, weil er so gewankt ist. Aber er ist geschickt in die Bank geklettert, hat seinen Stock angelehnt, mühevoll das Gotteslob aufgeschlagen und feiert nun andächtig die Messe mit. Bei der Kollekte fällt dem Mann vor mir sein Geldstück hinunter. Die Frau daneben bückt sich suchend. Er lehnt sich umständlich über sie drüber, in der Meinung das Geldstück könnte auf der anderen Seite sein. Der behinderte Mann auf der anderen Seite beobachtet die schweigende Turnerei, packt seinen Stock und wankt über den Mittelgang. Er lässt sich nieder auf seine Knie, rückt mit seiner Hand den Fuß der Frau zur Seite, nimmt mit einer seligen Gelassenheit das Geldstück, das sich dahinter verborgen hat und gibt es dem Mann zurück. Dann zieht er sich an der Kirchenbank wieder hoch und geht mit seinem Stock zurück an seinen Platz. Aus seiner anderen Perspektive, hatte er den „Schatz“ im Blick und konnte so helfen, ihn zu entdecken, auch wenn es ihn einiges an Kraft gekostet hat. Aber davon machte er kein Aufsehen.

Elfriede Demml (28), Pastoralassistentin in Graz-Christkönig/Hl. Schutzengel, Februar 2016

Erschienen in: Die Tagespost, 27.02.2016