Wandlung am Bahnhof

Kürzlich mussten mein Mitbewohner und ich eine Stunde am Salzburger Bahnhof auf meine Mama warten. Was wollen wir inzwischen tun? Ich wünsche mir, dass wir eine gute Tat vollbringen. Bloß wie? Wir schlendern über den Bahnhofsplatz sehen aber keinen Auftrag. So beschließen wir, uns erstmal auf eine Bank in der Mittagssonne zu setzen. Es ist aber nicht irgendeine Bank auf die wir zugehen, sondern offenbar die, bei der eine Menge Obdachloser ihren Tag verbringen. Sollen wir es wagen, uns da einfach dazuzusetzen? Wir geben unserem Herzen einen schubs. „Ist hier noch ein Platz frei?“ „Klar.“, kommt die Antwort aus einem Zahnlosen aber strahlenden Mund dessen Besitzer bereitwillig ein paar Zentimeter zur Seite rutscht. Wir werden nicht weiter beachtet. Und doch sitzen wir mitten drin. Wir dürfen erleben, wie ein Taxifahrer den Namen des Zahnlosen ruft und ihm eine Semmel gibt und wortlos davon geht. Wir dürfen beobachten, wie eine kleine, quirlige und doch vom Leben auf der Straße gekennzeichnete Frau ihre Freunde mit Alkohol versorgt, oder wie sich ein Jugendlicher einen Joint reinzieht und daraufhin inmitten der anderen einnickt. Am tiefsten trifft mich die Geschichte eines etwa vierzig jährigen Mannes, der den anderen verzweifelt und resigniert die Spuren auf seiner Kleidung zeigt, die die gestrigen Malerarbeiten in seiner Wohnung hinterlassen haben. Aus genau derselben Wohnung wurde er heute Nacht von seiner Freundin hinausgeworfen.

Ein ganz normaler Tag für diese Leute am Bahnhof. Wer hat nun an wem eine gute Tat vollbracht? Ihnen war es wahrscheinlich egal, ob wir da sitzen oder nicht. Aber in mir hat sich etwas gewandelt. Mein Blick hat sich geweitet. Meine Berührungsängste wurden abgebaut. Plötzlich konnte ich mit offenen Augen durch die Stadt gehen, den Bettlern in die Augen schauen und „Grüß Gott“ sagen.

Elfriede Demml (26), studiert kath. Theologie in Benediktbeuern, Oktober 2013

Erschienen in: Die Tagespost, 16.11.2013