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Von Angesicht zu Angesicht
 

Ich bin mit einer neuen Assistentin auf dem Weg zum Einkaufen. Vor dem Geschäft hockt ein junges Mädchen, bestimmt um einiges jünger als ich. Sie hat einen noch nicht ausgewachsenen schwarzen Labrador an der Leine. Da das Mädchen von weitem sehr zierlich und fertig, ja genau genommen wie ein Junkie aussieht, traue ich ihr nicht zu, dass sie den Hund unter Kontrolle hält. Ich habe auch keine Möglichkeit einen großen Bogen um den Hund zu machen, weil auf der anderen Seite ein Auto steht. So siegt mal wieder meine Angst vor Hunden und ich bleibe einfach im Regen stehen. Besorgt fragt meine Assistentin, ob mit meinem Rollstuhl etwas nicht in Ordnung sei. „Nein, ich habe nur Angst vor diesem Hund.“ Sie bietet mir an, alleine für mich einkaufen zu gehen. Ein bisschen muss ich über mich selber schmunzeln, dass es mir lieber ist, im Regen zu stehen, als bei einem eigentlich ganz niedlich aussehenden Hund vorbei zu fahren. Aber gut, ich kann nicht aus meiner Haut. Nach einigen Minuten steht das Mädchen auf und kommt mir mit dem Hund entgegen. Schnell weiche ich aus. Doch was passiert? Sie kommt schnurstracks auf MICH zu! Kurz fühle ich mich wie in der Falle, aber gut, ich harre der Dinge. Schon steht sie vor mir, der Hund daneben. Ich weiß kaum wie mir geschieht. Ein Gesicht, das die Spuren einer traurigen Geschichte trägt, das aber trotzdem noch die Schönheit durchscheinen lässt, die Gott in das Mädchen hineingelegt hat, beugt sich mir mitfühlend entgegen. Zierliche zitternde Hände strecken sich nach mir aus und streicheln mir zärtlich über die Wange. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragt mich das Mädchen zu meinem Erstaunen. Ich muss mich wirklich wundern, eigentlich hatte ich eher Mitleid mit ihr! Aber ich freue mich über ihren Mut, trotz ihrer Lage, auf mich zuzugehen und versichere ihr, dass es mir gut geht. Plötzlich beginnt der Hund zu bellen und mit dem Schwanz zu wedeln. Beschützend beugt sie sich über mich. „Du musst keine Angst haben.“ Ein junger eigentlich hübscher Mann, der aber noch heruntergekommener aussieht, kommt und umarmt das Mädchen. Noch einmal versichern sich beide, dass mit mir alles in Ordnung ist. Dann gehen sie Arm in Arm davon. Berührt von der Liebe, die mir diese beiden offensichtlich aus allen Rastern der Gesellschaft gefallenen jungen Menschen entgegengebracht haben, schaue ich ihnen nach und hoffe, dass es ihnen jemand gleich tut und ihnen ebenso barmherzig begegnet.

Jetzt, wo ich diese Zeilen aufschreibe, muss ich an die Worte eines weisen alten Mannes denken, der mir vor kurzem eindringlich gesagt hat, dass sich IN meiner Schwachheit Gott mit seiner Liebe und Herrlichkeit offenbaren will. Ja, hätte ich keine Angst gehabt, wäre ich nicht alleine im Regen gestanden, noch dazu im Rollstuhl, wäre ich IHM nicht in diesem Mädchen begegnet.


 

Elfriede Demml (28), Pastoralassistentin in Graz-Christkönig/Hl. Schutzengel, September 2015

 

Erschienen in: Die Tagespost, 24.10.2015

 

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