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Liebe umsonst

 

Vor kurzem durfte ich wieder einmal mit einem weisen alten Mann telefonieren. Das Lebensthema des „alten Pilgerbruders von Jesus", wie er sich selbst nennt, ist die „Liebe umsonst“. In den Augen der Welt ist sie umsonst, nutzlos, Mist (er verwendet immer ganz eindrückliche Bilder). Bei Gott heißt aber umsonst: gratis, geschenkt. Genauso ist es mit dem Überflüssig Sein. In den Augen der Welt heißt überflüssig: umsonst, nutzlos, Mist. Bei Gott heißt überflüssig: überfließend sein, so voll sein von seiner Liebe, dass sie auf andere überströmt. Seine Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen (Römer 5,5). Ich will es ertragen „überflüssig“ zu sein, damit Seine Liebe überfließen kann. Ich will es ertragen „umsonst“ zu sein, damit ich umsonst und zweckfrei lieben kann.

Dazu hatte ich letzte Woche ein sehr eindrückliches Erlebnis. Ich war mit meinen Firmlingen im VinziDorf und Pfarrer Wolfgang Pucher, der dieses Dorf aufgebaut hat, hat uns von seiner Arbeit und vom Leben der Obdachlosen, die dort ein Zuhause finden erzählt. Wir saßen im „Aufenthaltsraum“, einer Baracke. Pfarrer Pucher war gerade dabei, den Jugendlichen zu demonstrieren, wie es ist, wenn man täglich Menschen „anschnorren“ muss, als plötzlich ein Obdachloser Bewohner des VinziDorfes an den Tisch kam und jedem der Firmlinge eine Münze aus seiner Hosentasche hinlegte – wahrscheinlich das, was er an dem Tag erbettelte. Mir legte er keine Münze hin. Aber wenige Augenblicke später kam er wieder und hängte mir ein Franziskuskreuz um den Hals. Es roch noch nach Rauch. Offensichtlich hatte er es schon länger mit sich getragen. „Das wird dich beschützen!“, sagte er und verschwand wieder in der Ecke des Raumes. Die Firmlinge waren schwer beeindruckt von diesem Erlebnis, dass ihnen jemand, der selbst nicht einmal das Nötigste zum Leben hat, einfach so Geld schenkt. Selbst der Pfarrer schüttelte den Kopf und meinte: „Ich habe schon viel erlebt und ich bin davon überzeugt, dass die Bewohner des VinziDorfes religiöser sind als meine Pfarrgemeinde, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.“

Ich trage seit dem Tag das Kreuz täglich und versuche, den Mann im Herzen mitzutragen und ihn und seine Geschichte immer wieder vor den Herrn zu legen.

 

Elfriede Demml (28), Pastoralpraktikantin Graz Liebenau, Mai 2015

 

Erschienen in: Ausseerland Pfarrblatt, Juni 2015

 

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