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Armut hat viele Gesichter

 

Plötzlich treffe ich ganz andere Menschen als früher. Ich sitze in den Caritas-Sprechstunden und bin betroffen von der Armut in unserem Land. Ich ertappe mich dabei, wie ich beim Erntedankfest voll Freude auf den reichen Gabentisch schaue, weil ich plötzlich Gesichter von Menschen vor Augen habe, die diese Lebensmittel bekommen und die sich sehr darüber freuen werden.

Doch die Armut ist nicht nur eine Materielle. Kürzlich wurde in unserer Pfarre Graz-Süd das Begegnungszentrum eröffnet. Es soll Menschen in unserem Gebiet eine Möglichkeit bieten sich eben zu begegnen – leider keine Selbstverständlichkeit in der Stadt, noch dazu in einem Hochhausviertel wie dem unseren, indem 52 Nationen leben. Ein Angebot in diesem Begegnungszentrum ist die Lernbetreuung an drei Nachmittagen der Woche. Wir machen mit den Kindern, deren Eltern oft nicht deutsch sprechen, Hausaufgaben, lernen für Schularbeiten, üben lesen usw.

Ein drittes Gesicht der Armut habe ich gestern kennen gelernt. Ich habe nach einem sonnigen Plätzchen in der Wiese gesucht (auch keine Selbstverständlichkeit in der Stadt), um mich dort für einen Bibelabend vorzubereiten. Dabei ist mir mein Kugelschreiber hinuntergefallen. Ich habe also Ausschau gehalten nach jemand, der ihn mir wieder aufheben kann. Dieser jemand saß mit weißen zerzausten Haaren, einem Glas Bier in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen Hand alleine in einer Garage. Ich habe ihn gefragt, ob er mir meinen Kugelschreiber wieder aufhebt. Das hat er sehr gerne gemacht. So konnte ich mich wieder meiner Arbeit widmen. Kurze Zeit später schlurfte der Mann herbei. Er hatte zwei Kugelschreiber in der Hand. „Falls wieder einmal einer runterfällt“, meinte er und ging wieder weg. Es dauerte nicht lange und er kam wieder. Diesmal brachte er mir einen Kuli, von dem er dachte, dass ich ihn mit meinen spastischen Fingern besser halten kann. Ich war so gerührt, wie sehr sich der Mann um mich sorgte und gleichzeitig traurig, über seine Einsamkeit, die ihn dazu brachte, bei strahlendem Sonnenschein, alleine in der Garage zu sitzen und sein einsames Herz mit Bier und Zigarettenqualm zu befüllen.

Herr, nur du kannst satt machen an Leib und Seele. Erfülle uns mit dir, und hilf uns diese Fülle mit anderen zu teilen.

 

Elfriede Demml (27), Pastoralpraktikantin im Pfarrverband Graz-Liebenau, Oktober 2014

Erschienen in: Ausseerland Pfarrblatt, November 2015

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