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In Sicherheit

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Freitag, 22. Juli 2016, abends am Münchner Hauptbahnhof: Ich bin mit meiner Assistentin auf dem Weg zu einem Intensivtherapiekurs in Norddeutschland. In München wollen wir bei einer Freundin übernachten und am nächsten Tag unsere Reise fortsetzen. Mein Onkel holt uns am Gleis, mit ihm wollen wir noch etwas essen und dann wird er uns zu meiner Freundin begleiten, damit wir uns in der Großstadt nicht verirren. :-)… Doch es kommt anders. Noch während wir essen sehen wir auf den im Bahnhof angebrachten Fernsehern, dass es in einem Münchner Einkaufszentrum eine Schießerei gab. Erschüttert wollen wir uns auf den Weg zu meiner Freundin machen. Der Aufzug kommt nicht. Wir erfahren, dass alle öffentlichen Verkehrsmittel gesperrt sind, weil „die Täter“ noch nicht gefasst sind. „Na gut, dann müssen wir eben warten“, denken wir und stellen uns an die Seite. Plötzlich bricht auf der anderen Seite des Bahnhofs (wo wir aber nicht hinsehen) Panik aus. Leute kreischen, rennen… Der ganze Bahnhof scheint auf der Flucht zu sein. Was ist da hinten passiert? Wir wissen es nicht. Aber wir sehen die Angst in den Augen der Menschen, die auf uns zulaufen und wir merken, wir müssen auch laufen sonst kommen wir in dem Tumult drunter. Ich fahre also mit meinem Rollstuhl los, mein Onkel packt Gott sei Dank noch meine Tasche und folgt mir, meine Assistentin ruft mir immer wieder zu: „Schneller, schneller, schneller!“ Aber mein Rollstuhl geht nicht schneller und vor dem Bahnhof finden sich verschiedene Barrieren wie abgestellte Fahrräder, Gehsteigkanten usw., die mich am Vorwärtskommen hindern. Wir biegen auf die Seite ab, versuchen dem Menschenstrom zu entrinnen. Aber auch von der anderen Seite laufen Menschen auf uns zu. Überall Polizei, Blaulicht, kreischende und weinende Menschen. Was passiert ist wissen wir nicht, aber offensichtlich ist es zu gefährlich, hier zu bleiben. Meine Assistentin hat Panik. Mein Onkel einen besorgten Blick, bleibt aber ruhig. Ich zittere am ganzen Leib, bete und rechne damit, dass es passieren könnte, dass ich erschossen werde. Doch gleichzeitig weiß ich mich in Sicherheit. Der Herr hält mich fest in seinen Händen, ob ich nun lebe oder sterbe. Zum Fliehen sind wir zu langsam, das haben wir schon gemerkt. Aber wir finden ein Versteck in einer Einfahrt zur Tiefgarage. Es regnet und wird immer später. Uns wird empfohlen, Unterschlupf in einem Hotel zu suchen. Doch die in der näheren Umgebung haben entweder Stufen, über die ich mit meinem Elektrorollstuhl nicht drüber komme, oder sie sind schon so überfüllt mit ängstlichen Menschen, dass wir nicht mehr rein dürfen. Ein bisschen komme ich mir vor wie Maria und Josef bei der Herbergssuche. Endlich finden wir unseren „Stall“, der allerdings ein Luxushotel ist. Die Zimmer sind ausgebucht. Aufgrund der Empfehlung, die Häuser nicht mehr zu verlassen, dürfen wir aber – gemeinsam mit vielen anderen Hilfe suchenden Menschen – auf dem roten Teppich im Foyer des Hotels übernachten. Kissen und Wasserflaschen werden von den freundlichen und geduldigen Mitarbeitern ausgeteilt, die sich ihren Nachtdienst bestimmt auch anders vorgestellt haben. Das Licht wird ausgemacht und das Hotel zugesperrt. Meine Assistentin bettet mich mit dem Kopf unter einen Tisch, der in der Ecke steht. Es ist wie eine Höhle in der ich mich halbwegs sicher fühle. Die ganze Nacht hört man draußen „Tatütata“. Immer wieder klingeln Menschen und suchen Zuflucht. Jedes Mal zucke ich zusammen, denn ich weiß ja nicht, wer da kommt.

In dieser Nacht habe ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich denke an die tausenden von Menschen die weltweit auf der Flucht sind. Für sie ist das, was ich heute Nacht erlebe, jahrelange Realität. Und ich schlafe hier mal eine Nacht, zwar auf hartem Boden aber immerhin im Trockenen, Warmen und ich weiß, dass ich in Sicherheit bin und dass das morgen alles ein Ende hat. Und noch etwas wird mir bewusst: Die Lehre aus dieser Nacht sollte nicht sein, dass ich in Zukunft überall wo ich hinkomme Angst vor einem Attentat habe. Die Lehre sollte sein, dass ich fest auf den Herrn vertraue und dass ich so lebe, dass mein Leben jederzeit ein Ende haben könnte. Diese Nacht hat mir das Wort des Apostels Paulus (Römer 8,38f) ins Herz geschrieben: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“

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Elfriede Demml (29), Pastoralassistentin im Pfarrverband Graz-Christkönig/Hl. Schutzengel, August 2016

Erschienen in: Ausseerland Pfarrblatt, September/Oktober 2016

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