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Stets begleitet

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Es stürmt und schneit und eine mehrstündige Zugfahrt mit Umstieg liegt vor mir. Ich bin ein bisschen aufgeregt. Wird der Zug überhaupt fahren? Oder wird er vielleicht blockiert sein von umgefallenen Bäumen oder Ähnlichem? Und wird mir jemand meine dicke Winterjacke ausziehen, damit ich im Zug nicht verschmachte, und mir hinterher wieder anziehen, damit ich draußen nicht erfriere? Diese Gedanken schießen mir durch den Kopf.
Und da kommt schon mein erster Zug. Es ist ein Niederflurzug. Sehr gut, ich kann mit nur wenig Unterstützung schnell mit meinem Rollstuhl einsteigen. Nur beim Überwinden des Spaltes zwischen Bahnsteig und Zug muss mich jemand ein bisschen halten, damit meine Räder nicht in den Spalt fallen. Aber das ist schnell geschafft und unser Zug kommt auch pünktlich an dem Bahnhof an, wo ich umsteigen muss. Doch plötzlich merke ich, dass niemand in meiner Nähe ist, der mir wieder raus helfen könnte über den besagten Spalt. Ich schaffe es mit Mühe den Türknopf zu drücken und die Tür geht auf. Ich stelle mich vorsichtig soweit in die Tür, dass sie nicht mehr zu gehen kann und ich trotzdem nicht in den Spalt falle. Dabei wackelt mein Rollstuhl und ein Handschuh fällt mir in den Spalt hinunter. Traurig schaue ich ihm hinterher. Gleichzeitig bin ich froh, dass es nicht mein Handy war. Ich rufe, doch keiner hört mich. Es ist zu laut am Bahnhof und die Leute sind alle weiter weg. Nur gut, dass unser Zug hier Endstation hat. Ich rufe mehrmals so laut ich kann und drücke die Hupe meines Rollstuhls. Und da erblickt mich "mein Engel", er kommt und hilft mir über den Spalt. Er steigt sogar in den Spalt hinunter, um mir meinen Handschuh zu holen. Ich bin glücklich. Auch der Anschlusszug ist noch nicht da, also scheint alles in Ordnung zu sein.
Doch da kommt die Durchsage: Unser Anschlusszug hat eineinhalb Stunden Verspätung aufgrund eines technischen Defekts. Was nun? Weiterhin stürmt und schneit es und es ist kalt. Außerdem beginnt es schon zu dämmern. Da kommt der Zugführer unseres ersten Zuges und bietet an, dass wir in seinem Zug warten können, denn der habe ohnehin eine Stunde Aufenthalt und er ist immerhin geheizt. Fragend schaue ich meinen Engel an. "Musst du auch auf diesen Zug warten?" - "Ja. " "Würdest du mir also noch einmal hineinhelfen und dann wieder raus?" - "Ja, kein Problem!" Wir steigen also wieder ein. Am Anfang sind es noch mehrere Menschen, die mit einsteigen. Aber irgendwann sind mein Engel und ich alleine. Ich bin richtig froh, dass er da ist, ansonsten wäre mir die Situation schon ein bisschen unheimlich. Inzwischen ist es ganz dunkel geworden. Weiterhin schneit es. Wäre ich allein, wüsste ich nicht, wie ich mit meinem Rollstuhl durch den Schnee kommen sollte. Mein Engel holt mir meine Brotdose aus der Tasche und ich esse ein bisschen. Außerdem muss ich noch meiner Assistentin Bescheid geben, dass ich später komme. Nach einer Stunde müssen wir dann doch unseren warmen Unterschlupf verlassen und wieder raus auf den Bahnsteig. Mein Engel macht mir die Tür zum Wartehäuschen auf. Auch das hätte ich ohne ihn nicht geschafft und hätte wohl in der Kälte warten müssen. Aber er ist da. Gott sei Dank! Gott schickt mir immer zur rechten Zeit seine Engel. Das sage ich ihm auch. Mein Engel erzählt mir, dass er eigentlich erst einen späteren Zug nehmen wollte. Er hat nur aufgrund des schlechten Wetters seinen Ausflug früher abgebrochen. Nun habe er aber ein Zugticket, das für den kommenden Zug nicht gültig ist. "Kein Problem!", verkünde ich und bin froh, dass auch ich eine Unterstützung für ihn sein kann: "Ich darf eine Begleitperson gratis mitnehmen. Du kannst einfach mit mir in den Zug einsteigen. Und ich bin richtig froh, dich als Begleitperson zu haben. Denn ich brauche jemanden, der mir im Zug die Jacke auszieht." Wir unterhalten uns, bis endlich nach zwei Stunden tatsächlich unser Zug kommt. Der Engel nimmt sein Begleitpersonsein tatsächlich sehr ernst. Gemeinsam mit drei Zugbegleitern schiebt er den Hebelift durch den Schnee. Die vier Männer müssen sich sehr plagen, denn der Bahnsteig ist lange und nicht überdacht und es liegt inzwischen schon sehr viel Schnee. Mein Elektro-Rollstuhl zeigt mal wieder, dass er sehr geländegängig ist und schafft es gerade so, sich den Weg durch den Schnee zu bahnen. Nun sind wir tatsächlich im Zug gelandet. Wir unterhalten uns im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt. Doch die entscheidende Frage stellt keiner. "Wie heißt du eigentlich?" Dazu sind wir wohl beide zu diskret und außerdem muss ja ein Engel doch auch noch etwas Geheimnisvolles an sich haben. Bald muss er aussteigen. Doch er gibt mir noch zu trinken und sagt mir: "Eigentlich habe ich mich geärgert, dass ich mir heute Urlaub genommen habe und dann alles nicht so gelaufen ist, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich habe mir gedacht, ich habe einen Urlaubstag verschwendet. Aber nach der Begegnung mit dir macht doch alles wieder Sinn." Er zieht sich seine Jacke an, fragt mich, ob ich noch etwas brauche und dann hält er zögernd inne. Es rattert in seinem Kopf. "Ich bin übrigens der Max", sagt er, dreht sich um und verlässt den Zug. Durch das Fenster winkt er noch einmal und dann verschwindet er in der Dunkelheit – so wie es mit Engeln eben ist. Sie tauchen wie aus dem Nichts auf, wenn man sie dringend braucht und dann muss man sie wieder loslassen, zu ihrem nächsten Einsatzort.
Ich bleibe trotzdem nicht engellos zurück. Ein älterer Herr, der in der Nähe sitzt und beobachtet hat, dass mich mein Engel soeben verlassen hat, meint: "Wenn Sie dann aussteigen, helfe ich Ihnen gerne beim Anziehen. Unfassbar! Der nächste Engel! Danke Gott, dass du mich stets mit ihnen umgibst!

 

Elfriede Demml, Pastoralreferentin in Graz, 7. Februar 2022

Erschienen in: Die Tagespost, Februar oder März 2022

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