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Starker Segen in der Schwachheit
 

„Darf ich reinkommen?“, frage ich einen Patienten, den ich im Rahmen meines Praktikums in der Klinikseelsorge begleite. „Ich versorge gerade meine Wunde. Wenn Sie das anschauen können, gerne. Ansonsten ist es vielleicht besser, wenn Sie später noch einmal kommen.“ Lieber würde ich umdrehen und gehen. Doch die Blöße möchte ich mir nicht geben und so sage ich mehr oder weniger tapfer: „Ich halt das schon aus – ich muss ja nicht so genau hinschauen.“ Ich versuche angestrengt, meinem Gegenüber nur ins Gesicht zu schauen und meinen Blick nicht tiefer sinken zu lassen. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn dieser pflegt mit einer großen Fürsorge seine Wunde und erzählt mir genauestens, was er da macht. So wage ich doch einen Blick nach unten und muss schlucken. Was ich sehe erinnert mich eher an einen Klumpen Fleisch, als an einen menschlichen Leib. „Krass, was ein Körper so alles aushält!“, rutscht es mir unwillkürlich heraus. Er lacht. Das Eis ist gebrochen. Nun kann auch ich die Wunde genau begutachten und merke schnell, dass es ein auf besondere Weise „heilsamer“ und segensreicher Augenblick für mich ist, in dem ich die Scheu, schlimmen Dingen „ins Gesicht“ zu schauen, verliere.
 

Bei unserer nächsten Begegnung, ein paar Tage später, kann mich der Anblick der Verletzung nicht mehr so leicht schocken. Fast scheint es mir schon normal und dazugehörend zu sein. Ich bedanke mich bei dem Mann für sein Zutrauen, mir die Wunde zu zeigen. Aus heiterem Himmel sagt er plötzlich, dass er es schade finde, dass wir so selten füreinander beten und dass er es erst einmal erlebt habe, dass jemand bewusst für ihn gebetet habe. Da rennt er bei mir natürlich offene Türen ein. Ich sage ihm, dass ich das niemanden aufzwingen mag, aber dass ich das natürlich gerne mache. Jetzt gleich? Ja! Ich versuche meine Hand auf seinen Kopf zu legen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Erstmal müssen wir beide mit unseren Rollstühlen rangieren bis unsere Gefährte uns nicht mehr im Weg stehen und wir uns endlich erreichen. Wir müssen über unsere eigene Gebrechlichkeit schmunzeln und merken gleichzeitig, dass Gott darin stark ist. Nun kann ich endlich meine spastische Hand auf den Kopf des schwer verletzten Mannes legen und wir beten gemeinsam um SEINEN STARKEN SEGEN.

 

Elfriede Demml 27, Praktikantin in der Klinikseelsorge Murnau, Juni 2014

 

Erschienen in: Die Tagespost, 18.08.2014

 

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