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Mit Blindheit geschlagen

 

Sonntagnachmittag, es klopft an meiner Tür. Da ich ausnahmsweise nicht in meinem elektrischen Rollstuhl sitze, drücke ich einfach auf die Fernbedienung und die Tür öffnet sich. Ich höre, wie eine aufgeregt klingende Frau in meine Wohnung stürmt. Obwohl ich rufe, um zu zeigen wo ich bin, höre ich, wie sie von einem Zimmer ins nächste stürmt, um nach jemanden zu suchen. Endlich findet sie mich. Der Rollstuhl, über den sie fast drüber stolpert scheint sie wenig zu irritieren, sie hockt sich zu mir, stellt sich bei mir vor und schildert mir ihre Not. In ihrer Wohnung wurde der Strom abgestellt. Nun sitzt sie im Dunkeln. Ob ich ein paar Kerzen für sie hätte? Ich erkläre ihr, wo welche zu finden sind. Sie stürzt aufgeregt ins nächste Zimmer und ich höre, wie sich sämtliche Schubladen aufreißt, ich rufe hinterher: „Nicht in einer Schublade, in dem Fach rechts unten sind die Kerzen!“ Sie kommt wieder, versucht mir angestrengt zuzuhören. Noch einmal versucht sie es. Vergebens. Mir fällt ein, dass in meinem Regal im Wohnzimmer einige Kerzen stehen. Als sie wieder kommt, sage ich ihr das. Wieder die gleiche Szene: ich höre, wie sie überall sucht, nur nicht dort wo ich gesagt habe. Sie wird langsam verzweifelt. Sie ruft, sie finde keine Kerzen, aber Raffaellos hätte sie gesehen, ob sie sich welche nehmen dürfe. Ja natürlich. Sie kommt wieder zurück. Mir fällt ein, dass auf dem Esstisch eine angebrannte Kerze steht. Die findet sie dann endlich. Auch ein Feuerzeug liegt daneben. Ob sie das auch nehmen dürfe? Ja natürlich. Sie kommt noch einmal überglücklich zu mir. Küsst mich auf die Wange, und drückt mir das Kreuz in die Hand, das auf meinem Nachtkästchen liegt. Ich solle an sie denken. Als ich einige Stunden später wieder im Rollstuhl sitze und ins Wohnzimmer fahre, sehe ich auf einen Blick mindestens sechs große Kerzen im Regal stehen – direkt neben den Raffaellos. Traurig denke ich, die hätte sie alle haben können. Und plötzlich ahne ich, wie es Gott ergeht, wenn er großartige Dinge für uns bereitet und wir in unserer Hektik, Betriebsamkeit und Ängstlichkeit mit Blindheit geschlagen sind und uns mit einer kleinen abgebrannten Kerze zufrieden geben.
 

Elfriede Demml (27) Pastoralpraktikantin im Pfarrverband Graz Liebenau, Jänner 2015

 

Erschienen in: Die Tagespost, 28.02.2015

 

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